Und die Osteopathie wirkt doch.


Eine notwendige Entgegnung zum Thema Osteopathie bei der Behandlung von Dreimonatskoliken.
Helge Franke
Gabi Prediger
 
Ende Mai veröffentlichte Springer Medizin die Meldung, dass Osteopathie und Chiropraktik bei Dreimonatskoliken ohne nachgewiesenen Effekt seien [1]. Die Nachricht bezog sich auf eine medizinische Fachinformation, die mit dem entsprechenden medizinischen Berufsnachweis zugänglich ist. Der von Dr. Elke Oberhofer verfasste Beitrag erläuterte gleich in den ersten vier Zeilen, worum es ging: „Die Wirksamkeit von Osteopathie und Chiropraktik zur Behandlung von Dreimonatskoliken wurde in einer aktuellen Metaanalyse untersucht. Ergebnis: Weder auf das Schreien noch auf die Schlafdauer hatten diese alternativmedizinischen Maßnahmen signifikanten Einfluss.“
 
Bei der Metaanalyse handelte es sich um eine Studie spanischer Physiotherapeuten [2], die insgesamt 5 randomisiert kontrollierte Studien untersucht hatten - zwei osteopathische und drei chiropraktische Studien. Zielparameter waren Schrei- und Schlafdauer der Säuglinge, die jeweils statistisch ausgewertet wurden. Die Studie erschien im April dieses Jahres in der Zeitschrift Acta Paediatrica und folgerte, dass beide Verfahren bei Säuglingen mit Säuglingskoliken die Schreidauer nicht verkürzen und die Schlafdauer nicht verlängern könnten. Dr. Oberhofer erweiterte dies um die Aussage, dass die Ergebnisse „im Einklang mit mehreren Übersichtsarbeiten und Metaanalysen zu Dreimonatskoliken (stehen), in denen ebenfalls kein Effekt alternativmedizinischer oder komplementärer Verfahren nachgewiesen werden konnte.“
 
So weit zum Vorverständnis. Schauen wir uns die Auswertungen der spanischen Physiotherapeuten hinsichtlich der  Osteopathie ein wenig genauer an. Abb. 1 zeigt einen Forest Plot, wie er für die Ergebnisdarstellung verwendet wurde. Was vielleicht schwierig aussehen mag, ist im Grunde einfach zu lesen. Man sieht in der Mitte der Grafik die senkrechte Nulllinie. Wenn sich das Quadrat (Punktschätzer) mit dem Strich (Vertrauensintervall) ganz auf der linken oder rechten Seite der Nulllinie befindet, ist das Ergebnis der Primärstudie signifikant (und zwar umso mehr, je weiter es von der Nulllinie entfernt ist). Für die Raute gilt das Gleiche, sie zeigt das Gesamtergebnis der Primärstudien an. Unten links findet sich der berechnete p Wert. Ein Ergebnis ist statistisch signifikant, wenn P<0,05 ist.

Abb 1: Dreimonatskolik: Schreidauer in Stunden pro Tag
Sowohl die Studie von Castejón-Castejón et al. [3] als auch von Hayden und Mullinger [4] sind statistisch hochsignifikant. Bei Castejón-Castejón ist jedoch der Therapieeffekt deutlicher stärker. Hier war es den osteopathischen Therapeutinnen gelungen, die durchschnittliche Schreizeit der Kinder von 226 Minuten pro Tag auf knapp unter eine Minute zu verkürzen. In der Gruppe von Hayden betrug die Schreizeit in der osteopathischen Gruppe zu Beginn 143 Minuten und am Ende 53 Minuten. Der Grund, warum das Gesamtergebnis nicht signifikant ist (die Raute überschreitet die Nulllinie), liegt in der unterschiedlichen Stärke des Therapieeffekts, in der Heterogenität, die recht deutlich ist. Die Teilnehmeranzahl hingegen hat kaum einen Einfluss. Würde man die Studie von Castejón-Castejón um 120 Minuten schlechter berechnen, wäre das Gesamtergebnis statistisch signifikant (Abb. 2)

Abb 2: Dreimonatskolik: Schreidauer in Stunden pro Tag mit Reduzierung des Ergebnisses um 2 Stunden in der Studie von Castejón-Castejón.
In der spanischen Metaanalyse wurden nur veröffentlichte Studien berücksichtigt. Bei Metaanalysen gibt es jedoch die Empfehlung von Cochrane [5], möglichst veröffentlichte und unveröffentlichte Studien zu berücksichtigen, um eine Verzerrung des Ergebnisses, einen sogenannten Publication bias, zu vermeiden. Cochrane ist weltweit die führende Organisation in der Erstellung von hochwertigen systematischen Übersichtsarbeiten und Metaanalysen. Im Bereich von Schreikindern gibt es zwei D.O. Arbeiten [6, 7], die bisher noch nicht publiziert wurden. Werden diese Ergebnisse berücksichtigt, bleibt die Stärke des Therapieeffektes nahezu unverändert, (-1.76 Stunden = -106 Minuten), jedoch vermindert sich das Vertrauensintervall deutlich. Das Gesamtergebnis ist dadurch statistisch signifikant (Abb. 3).

Abb. 3: Dreimonatskolik: Schreidauer in Stunden pro Tag. Veröffentliche und unveröffentlichte Studien
Die beiden unveröffentlichten Studien untersuchten über einen Elternfragebogen neben der Schreidauer auch die Schreiintensität. Auch hier ist das Gesamtergebnis statistisch signifikant (Abb. 4)

Abb, 4: Dreimonatskolik: Schreiintensität
Die Metaanalyse der spanischen Osteopathen untersuchte auch die Schlafdauer und prüfte, ob es durch die Osteopathie zu einer Verlängerung kommt. In ihrer Berechnung war das wegen des breiten Vertrauensintervall knapp nicht der Fall (1.77 95%CI -0.12, 3.66). Bei der Berechnung gibt es prinzipiell zwei Möglichketen. Man verwendet nur die Endwerte der Osteopathie- und Kontrollgruppe und vergleicht diese miteinander (man geht dann davon aus, dass die Eingangswerte in etwa gleich sind) oder man arbeitet etwas genauer und nimmt die Differenz zwischen Eingangs- und Endwert einer jeden Gruppe und vergleicht diese. Die Physiotherapeuten aus Spanien hatten sich für den ersten Weg entschieden. Wendet man die zweite, präzisere Berechnung, bei der Studie von Hayden und Mullinger [4] an, kommt man jedoch zu einem anderen Ergebnis wie Abb. 5 zeigt. Das Ergebnis ist nun zum Vorteil der Osteopathie statistisch signifikant.

Abb. 5: Schlafdauer pro Tag
Die Autoren der Metaanalyse verweisen darauf, dass nicht alle eingeschlossenen Studien über Nebenwirkungen berichteten. Sie zitieren dabei Edzard Ernst, dass, wann immer Manipulationstechniken angewandt werden, auf Nebenwirkungen geachtet werden sollte. Man hat in diesem Zusammenhang den Eindruck, dass die Autoren der Metaanalyse die Merkmale einer craniosakralen Behandlung nicht verstanden haben, da bei dieser Behandlungsform im Unterschied zur Chiropraktik keine  Manipulationstechniken angewandt werden. Die Autoren schaffen es in ihrer Metaanalyse nicht, die Chiropraktik von der Osteopathie zu trennen. Gerade dies wäre aber wichtig. Schließlich wird man auch bei einer Bewertung dem Medikament A nicht gerecht, wenn man beständig Eigenschaften von Medikament B einfließen lässt. Die Studie von Castejón-Castejón [3] verweist darauf, dass die Eltern keinerlei Nebenwirkungen bei ihren Säuglingen festgestellt hätten. Die Studie von Hayden und Mullinger [4] erwähnt keine Nebenwirkungen und berichtet darüber, dass 10 von 14 Säuglingen bereits nach der dritten Behandlung nahezu beschwerdefrei waren. Bei den unveröffentlichten osteopathischen Studien erwähnen Zimmer et al. [7], dass klinisch relevante Nebenwirkungen  während der Studie nicht aufgetreten seien. Heber und Senger [6] erwähnen keine Nebenwirkungen. In diesem Zusammenhang sollte berücksichtigt werden, dass es 2005 (Heber) und 2006 (Hayden) meist noch nicht üblich war, Nebenwirkungen als Ergebnisparameter aufzuführen.
 
Fassen wir zusammen: Die beiden veröffentlichten Studien (Castejón-Castejón und Hayden und Mullinger) sind beide hinsichtlich der Schreidauer statistisch hochsignifikant, zeigen jedoch in ihrer gemeinsamen Berechnung durch den großen Vertrauensintervall kein signifikantes Gesamtergebnis. Dies ändert sich, wenn man mit zwei weiteren Studien die gesamte vorhandene Evidenz berücksichtigt. Die osteopathische Behandlung führt zu statistisch signifikanten Gesamtergebnissen hinsichtlich der Dauer des Schreiens, der Schreiintensität und – entgegen den Berechnungen der spanischen Metaanalyse – auch der Dauer des Schlafes. Es gibt bei den osteopathischen Studien keine Berichte über ernste Nebenwirkungen, zwei Studien verneinen diese explizit, zwei weitere lassen diesen Punkt unerwähnt. Nebenwirkungen tauchen in chiropraktischen Studien auf, doch lässt sich die Osteopathie nicht mit Eigenschaften der Chiropraktik beurteilen. Trotz allen Bemühens in der Metaanalyse bleiben Osteopathie und Chiropraktik unterschiedliche Therapieverfahren, die separat betrachtet werden müssen. Die Schlussfolgerung der spanischen Physiotherapeuten und der Autorin der Fachinformation, „weder Osteopathie noch Chiropraktik können evidenzbasiert zur Behandlung von Dreimonatskoliken empfohlen werden“ mag für die Chiropraktik stimmen. Für die Osteopathie stimmt sie in dieser Form nicht. Auch wenn es für die Zukunft größere Studien mit geringerer Heterogenität braucht, gibt es heute schon mehr Belege, die für die osteopathische Behandlung von Dreimonatskoliken sprechen als dagegen.
 
Literatur
 
  1. Oberhofer, E., Osteopathie und Chiropraktik. Dreimonatskoliken: Alternativmedizin ohne nachgewiesenen Effekt. Springer Medizin, 2023.
  2. Cabanillas-Barea, S., et al., Systematic review and meta-analysis showed that complementary and alternative medicines were not effective for infantile colic. Acta Paediatrica: Nurturing the Child, 2023.
  3. Castejón-Castejón, M., et al., Treatment of infant colic with craniosacral therapy. A randomized controlled trial. Complementary Therapies in Medicine, 2022. 71: p. 102885.
  4. Hayden, C. und B. Mullinger, A preliminary assessment of the impact of cranial osteopathy for the relief of infantile colic. Complementary Therapies in Clinical Practice, 2006. 12(2): p. 83-90.
  5. Higgins, J., et al., Cochrane Handbook for Systematic Reviews of Interventions version 6.3 (updated February 2022). Cochrane, 2022. Available from www.training.cochrane.org/handbook, 2022.
  6. Heber, U. und A. Senger, Die osteopathische Behandlung bei 3- Monatskolik im Vergleich zur konventionellen Therapie. Unpublished D.O. thesis, 2003.
  7. Zimmer, M., et al., Osteopathische Behandlung von Säuglingen mit infantiler Kolik/exzessivem Schreien: Eine prospektive, multizentrische, kontrollierte randomisierte Studie. unpublished D.O. thesis, 2023.
 
INIOST
Institut für osteopathische Studien
Fürst-Bülow-Str. 10
57074 Siegen
E-Mail: info@iniost.de
Homepage: www.iniost.de
 
Die Entgegnung wurde unterstützt vom Verband der Osteopathen Deutschland e.V. (VOD)


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03.10.2023 11:31:25